Mit dem gestrigen Mittwoch ist die achte Woche der Serie von Enthüllungen um die Überwachungsmaßnahmen der amerikanischen und angelsächsischen Geheimdienste angebrochen. Die Bundesregierung ist dennoch bisher weitestgehend Antworten schuldig geblieben, inwiefern sie über die Maßnahmen informiert war, und ob und inwieweit die deutschen Geheimdienste involviert waren. 16 Listenplatz-1-Kandidaten, 16 Landesvorsitzende, vier Fraktionsvorsitzende sowie vier Bundesvorstandsmitglieder fordern Bundeskanzlerin Angela Merkel deshalb jetzt in einem offenen Brief auf, die Vorgänge vollständig aufzuklären und die Öffentlichkeit nicht länger hinzuhalten. Hier nun der Wortlaut des Schreibens:
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrte Bundesminister,
seit der Präsenz der Überwachungsskandale um PRISM und Tempora in den Medien wird der Öffentlichkeit bewusst, dass Sie und Ihre Bundesregierung Ihrer Pflicht, den Schutz der Grundrechte der Bürger im Sinne des Rechtsstaats zu garantieren, nicht nachgekommen sind. Sie haben durch Mitwissen oder durch schuldhaftes Nichtwissen zu deren Aushöhlung und zur Ausspähung der Privatsphäre aller Bürger beigetragen, die auf Ihren Schutz vertraut hatten.
Nicht nur gestatten Sie der NSA, in Wiesbaden ein neues »Consolidated Intelligence Center« zu errichten, sondern auch dem Innenminister 100 Millionen Euro dafür auszugeben, via BND die Internetüberwachung zu erhöhen. Das Ausspähen privater Daten aller Bürger ist in unserem Rechtsstaat nicht hinnehmbar. In der heutigen Informationsgesellschaft wird digitale Kommunikation zu einem immer größeren Teil des täglichen Lebens. Daher muss sie dem gleichen Schutz unterliegen wie die analoge Kommunikation.
Das Internet als »Neuland« zu bezeichnen, ist der Versuch, diese Vorgänge zu verharmlosen und zu verschleiern. Tatsächlich ist das Netz keine rein virtuelle Welt, sondern ein Medium, das Kommunikation im Alltag immens vereinfacht. So wie die Einführung des Buchdrucks, des Rundfunks oder der Post- und Telefonnetze ist auch das Internet ein wichtiges Instrument geworden, das weder eine Scheinwelt begründet noch eine Aufweichung der bestehenden Grundrechte und rechtsstaatlicher Prinzipien rechtfertigt.
Fester Bestandteil des demokratischen Rechtsstaatsprinzips ist nicht nur die Unschuldsvermutung, sondern auch der Schutz privater Kommunikation: Nur wenn diese frei von staatlichem Zugriff bleibt, ist freier politischer Diskurs überhaupt möglich. Menschen, die sich beobachtet fühlen, verhalten sich anders. Beispiele dafür gab es in der Weltgeschichte zur Genüge. Daraus nicht gelernt zu haben, ist ein Armutszeugnis. Staatliche Überwachung zu befürworten – auch etwa Vorratsdatenspeicherung oder das Bestandsdatengesetz – ist eine Schande.
Das wiederholt aufgeführte Argument »Terrorismus« ist als ständige Nebelkerze ausgebrannt. Wenn es Ihnen darum ginge, Menschen vor dem Tod zu bewahren, dann würden Sie sich stattdessen um deutsche Krankenhaushygiene kümmern (40.000 Tote/Jahr) und dann um die Sicherheit im Straßenverkehr (3000 Tote/Jahr). Die Überwachung des Internets hält
die tatsächlichen Terroristen in Deutschland nicht auf. Der NSU konnte jahrelang unbehelligt morden. Terroristen fällt es leicht, die Überwachungsmethoden zu umgehen. Somit trifft die Überwachung nur noch unschuldige Bürger, denen die ihnen zustehende Unschuldsvermutung und die Rechtsmittel versagt werden.
Unterdessen hat der Terrorismus jedoch sein wichtigstes Ziel erreicht: Angst zu schüren, da das Vertrauen in den Staat zerstört wurde. Dabei wird er unterstützt von Politikern wie Ihnen, die diese Angst instrumentalisieren, um weitere Überwachungsmaßnahmen zu etablieren. Die Bundesregierung wäre gut beraten gewesen, die Grundrechte zu stärken, statt abzubauen. Freiheit kann man nicht schützen, indem man sie abschafft.
Die von Ihnen gezeigte Empörung über die ausländischen Überwachungsprogramme ist ebenso unglaubwürdig wie Innenminister Friedrichs Amtsbesuch in Washington oder die freundliche Anfrage an die britische Regierung, die erwartungsgemäß mit einer ebenso freundlichen Ablehnung beantwortet wurde. Ein angeblicher Freund, der die Privatsphäre unserer Bürger mit allen technisch verfügbaren Mitteln ausspäht, ist kein Freund. Die Ablehnung des Asylantrags des Whistleblowers Edward Snowden setzt Ihrem menschenrechtlichen Versagen die Krone auf. Whistleblower benötigen besonderen Schutz, damit sie weiterhin Skandale aufdecken und Edward Snowden verdient für seine mutigen Enthüllungen höchste Auszeichnungen.
Sie als Bundesregierung haben gegen Ihre Pflicht, die Grundrechte zu schützen, massiv verstoßen. Jetzt gibt es nur noch eine dem Rechtsstaat angemessene Handlungsweise: Wir fordern Sie auf, die Öffentlichkeit umgehend darüber aufzuklären, inwiefern Sie als Bundesregierung im Vorfeld über die massiven Grundrechtsverstöße durch ausländische Überwachungsprogramme informiert waren. Beantworten Sie unverzüglich unsere 13 Fragen in vollem Umfang, machen Sie die Antworten für die Öffentlichkeit nachvollziehbar durch belastbare Beweise und beeidigte Zeugenaussagen und setzen Sie unseren 6-Punkte-Plan für ein freies Internet um.
Jede Abweichung davon wäre ein weiterer Verrat an unseren Grundrechten, die zu schützen Ihre Aufgabe ist.
Mit freundlichen Grüßen
40 Mitzeichner:
Kevin Price, Vorsitzender Piratenpartei Niedersachsen
Stefan Körner, Vorsitzender Piratenpartei Bayern
Anne Funke, Vorsitzende Piratenpartei Sachsen-Anhalt
Thomas Michel, Vorsitzender Piratenpartei Hamburg
Wilm Schumacher, Vorsitzender Piratenpartei Thüringen
Thumay Karbalai Assad, Vorsitzender Piratenpartei Hessen
Patrick Schiffer, Vorsitzender Piratenpartei Nordrhein-Westfalen
Sven Stueckelschweiger, Vorsitzender Piratenpartei Schleswig-Holstein
Jasmin Maurer, Vorsitzende Piratenpartei Saarland
Sebastian Raible, Vorsitzender Piratenpartei Bremen
Michael Rudolph, Vorsitzender Piratenpartei Mecklenburg-Vorpommern
Gerhard Anger, Vorsitzender Piratenpartei Berlin
Clara Jongen, Vorsitzende Piratenpartei Brandenburg
Florian André Unterburger, Vorsitzender Piratenpartei Sachsen
Heiko Müller, Vorsitzender Piratenpartei Rheinland-Pfalz
Martin Eitzenberger, Vorsitzender Piratenpartei Baden-Württemberg
Volker Berkhout, Spitzenkandidat Piratenpartei Hessen
Bruno Kramm, Spitzenkandidat Piratenpartei Bayern
Sebastian Seeger, Spitzenkandidat Piratenpartei Hamburg
Jan Niklas Fingerle, Spitzenkandidat Piratenpartei Saarland
Andreas Kaßbohm, Spitzenkandidat Piratenpartei Thüringen
Cornelia Otto, Spitzenkandidatin Piratenpartei Berlin
Sebastian Harmel, Spitzenkandidat Piratenpartei Sachsen
Melanie Kalkowski, Spitzenkandidatin Piratenpartei Nordrhein-Westfalen
Marvin Pollock, Spitzenkandidat Piratenpartei Bremen
Sandra Tiedtke, Spitzenkandidatin Piratenpartei Sachsen-Anhalt
Veit Göritz, Spitzenkandidat Piratenpartei Brandenburg
Susanne Wiest, Spitzenkandidatin Piratenpartei Mecklenburg-Vorpommern
Dr. Heiko Schulze, Spitzenkandidat Piratenpartei Schleswig-Holstein
Jens-Wolfhard Schicke-Uffmann, Spitzenkandidat Piratenpartei Niedersachsen
Vincent Thenhart, Spitzenkandidat Piratenpartei Rheinland-Pfalz
Sebastian Nerz, Spitzenkandidat Piratenpartei Baden-Württemberg
Michael Hilberer, Vorsitzender Piratenfraktion im Saarländischen Landtag
Alexander Spies, Vorsitzender Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin
Torge Schmidt, Vorsitzender Piratenfraktion im Schleswig-Holsteinischen Landtag
Dr. Joachim Paul, Vorsitzender Piratenfraktion im Landtag Nordrhein-Westfalen
Katharina Nocun, politische Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland
Sven Schomacker, Generalsekretär der Piratenpartei Deutschland
Christophe Chan Hin, Beisitzer im Bundesvorstand der Piratenpartei Deutschland
Markus Barenhoff, stellvertretender Vorsitzender der Piratenpartei Deutschland
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